An einem Strang durch die Krise: Oliver Bürgel im Interview mit der Landesarmutskonferenz
AWO-Landesgeschäftsführer und LIGA-Federführer Oliver Bürgel berichtet im Interview mit der Landesarmutskonferenz, wie es ist ein Orchester aus Wohlfahrtsverbänden zu dirigieren und warum soziale Gerechtigkeit besonders in Coronazeiten unabdingbar ist.
Herr Bürgel, Sie sind Geschäftsführer der Arbeiterwohlfahrt (AWO) hier in Berlin und haben seit 2019 den Vorsitz bei der LIGA Berlin. Mit Fußball hat das aber nichts zu tun?
(lacht) Ich bin ja in Norddeutschland aufgewachsen und habe bis vor acht Jahren in Hamburg gelebt. Das Thema Männer-Fußball ist daher gerade eher heikel: Alle großen Vereine sind in der zweiten Liga, nur Werder Bremen konnte diesem Schicksal gerade noch von der Schippe springen. Aber im Ernst: „LIGA Berlin“ ist die Abkürzung für „Liga der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege in Berlin“. Sie ist der Zusammenschluss aus AWO, Caritas, Diakonie, Deutschem Roten Kreuz, dem Paritätischen und der Jüdischen Gemeinschaft. In anderen Bundesländern heißt die „Liga“ der sechs Wohlfahrtsverbände übrigens Landesarbeitsgemeinschaft. Das trifft es recht gut. Wir arbeiten zusammen, versuchen an einem Strang zu ziehen, unsere Interessen für die Menschen in unserer Stadt zu bündeln. So verschaffen wir ihnen mehr Gehör, als wenn dies jeder Verband alleine täte.
Wenn ich ein Bild vor Augen habe, das meine Arbeit als Landesgeschäftsführer und Vorsitzender der Liga verdeutlicht, dann ist es das des Dirigenten eines Symphonieorchesters. Ich spiele nicht die erste Geige, sondern sortiere, motiviere, sorge für den – manchmal – perfekten Einsatz und höre Dissonanzen, die ich auszugleichen versuche.
Die Wohlfahrtsverbände in und außerhalb Berlins sind wichtige Akteure, wenn es um die Verbesserung der Lebensverhältnisse der Menschen in Deutschland geht. Die AWO ist letztes Jahr bereits 100 Jahre alt geworden. Was eint Sie?
Ich würde sogar sagen, wir sind DIE Akteure, wenn es um die Verbesserung von Lebensverhältnissen von Menschen geht. Allein in Berlin haben wir 107.000 haupt- und 53.000 ehrenamtliche Mitarbeitende und vertreten 1.200 Träger und Initiativen. Eine Besonderheit dabei verdanken wir einer Eigenheit des deutschen Wohlfahrtssystems: Alle sechs Wohlfahrtsverbände gründen sich aus unterschiedlichen Milieus und gesellschaftlichen Gruppen. Sie entstanden beispielsweise aus den jüdischen, evangelischen oder katholischen Gemeinden, dem Bürgertum, den Initiativen oder der Arbeiterbewegung. Diese verschiedenen Gründungsgeschichten sind teilweise heute noch in der Sprache eines jeden Verbandes erlebbar. Trotz dieser unterschiedlichen Herkunft einigt uns jedoch ein gemeinsames Ziel und die Tatsache, dass der Mensch und seine Bedürfnisse im Mittelpunkt unseres Handels stehen. Wir schauen dabei vor allem auf die Menschen, die keine Lobby haben und sich selbst kein Gehör verschaffen können. Wir fördern die Hilfe zu Selbsthilfe. Und: Uns eint die Wut über Ungerechtigkeiten. Die Arbeiterwohlfahrt zum Beispiel drückt diese Ziele durch ihre Werte aus: Solidarität, Toleranz, Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit.
Können Sie uns Beispiel-Projekte nennen, die Sie innerhalb Ihres gemeinsamen Wirkens innerhalb der LIGA Berlin bearbeiten, um besser zu verstehen, was Sie konkret machen?
Eine bessere Bezahlung in der Pflege ist ein Ziel, für das wir gemeinsam kämpfen. Dafür verhandeln wir mit den Krankenkassen. Seit langem setzen wir uns auch für eine bessere Finanzierung der Wohnungslosenhilfe ein. Die Berliner Sozialsenatorin Elke Breitenbach hat hier ja viel bewegt und wir unterstützen sie dabei. Ein Thema, das uns aktuell beschäftigt, ist die von Berlin geplante „Heldenprämie“. Sie soll Menschen ausgezahlt werden, die während der Corona-Pandemie besonderen Risiken ausgesetzt waren und sind. Das betrifft etwa Ärzt*innen, Pflegekräfte, Mitarbeitende in Kitas oder Gesundheitsämtern. Allerdings gilt dies nur für die landeseigenen Betriebe. Mitarbeitende der freien, gemeinnützigen Träger sollten erst gar nicht und dann nur mit der Hälfte des Bonus berücksichtigt werden. Um diese Ungerechtigkeiten zu überwinden, haben wir einiges auf die Beine gestellt. Wir haben eine virtuelle Pressekonferenz durchgeführt, dem Regierenden einen offenen Brief geschrieben und für den Bereich Kita mit der Senatsverwaltung verhandelt.
Ein riesiges gemeinsames Projekt ist auch die Einführung und Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes. Das Gesetz stellt quasi alles auf den Kopf und den Menschen mit seinen Bedürfnissen in den Mittelpunkt. Diese Neuerung verlangt von allen viel Verständnis und Engagement ab. Das können wir nur gemeinsam schaffen. Zusammen mit der Politik und den Verwaltungen in Berlin.
Mit Ausbruch der Corona-Pandemie ist nichts mehr wie es ist. Welches sind derzeit Ihre größten Herausforderungen innerhalb der LIGA Berlin?
Um ehrlich zu sein: Die Herausforderungen, der Entscheidungsdruck, aber auch die Einigkeit und die Geschlossenheit waren ab etwa Mitte März riesig. Für alle – Verbände, Politik und Verwaltung – sind es besondere Zeiten. Wir konnten nichts im Vorneherein ausprobieren, sondern mussten uns gemeinsam an Lösungen herantasten. Da gab es einige Fragen zu klären: Wo bekommen wir Schutzkleindung für unsere Mitarbeiter*innen her? Wie organisieren wir die Notbetreuung in den Kitas? Wie schützen wir Geflüchtete in Gemeinschaftsunterkünften? Wie erklärt man Bewohner*innen in Pflegeheimen, dass ihre Liebsten sie nicht besuchen dürfen? Zum Glück konnten wir bei der AWO da schnell und flexibel mobiles Arbeiten ermöglich und unsere Prozesse anpassen. Dadurch konnten nahezu alle Mitarbeiter*innen auch während der Pandemie nahtlos weiterarbeiten. Das war bei den Berliner Verwaltungen leider nicht der Fall.
Die LIGA Berlin unterstützt die Arbeit der Landesarmutskonferenz Berlin seit Beginn (2009) finanziell und ideell. Was macht die lak Berlin für Sie so wichtig und wertvoll?
Wenn es die Landesarmutskonferenz Berlin nicht schon geben würde, dann müssten wir sie gründen! Uns Wohlfahrtsverbände eint ja die Wut über Ungerechtigkeiten und somit auch die Armut. Die Landesarmutskonferenz Berlin gibt dem Thema eine deutliche Stimme. So sorgt sie dafür, dass Kinderarmut, Entstehungsgründe und neue Formen von Armut sowie soziale Ausgrenzungen trotz der vielen anderen großen Herausforderungen immer wieder aufs Tableau gebracht werden.
Wo sollten wir uns gemeinsam nach Ihrer Einschätzung in den kommenden Monaten oder Jahren besonders engagieren und besonders hingucken?
Die Auswirkung der Corona-Pandemie auf die Gesellschaft und die Soziale Arbeit wird uns sicherlich auch in den kommenden Monaten, wenn nicht Jahren, beschäftigen. Die Pandemie hat nicht nur im Sinne des Infektionsrisikos besonders vulnerable Gruppen drastisch offengelegt. Sie zeigt, wenn wir nach Berlin-Neukölln, aber auch Göttingen und Gütersloh schauen: Sie trifft diejenigen besonders hart, die auch vorher schon sozial benachteiligt waren. Armut, prekäre Arbeits- und Wohnverhältnisse, Migrationshintergrund, aber auch das Alter werden zum Gesundheitsrisiko. Kinder aus sogenannten bildungsfernen Familien oder aus Familien, die zuhause wenig bis kein Deutsch sprechen, werden von den Schul- und Kitaschließungen vermutlich stärker zurückgeworfen. Auch häusliche Gewalt ist während des Lockdowns erheblich angestiegen. Durch Kurzarbeit, Kündigungen oder ausbleibendes Einkommen bei Selbstständigen und Freiberufler*innen müssen wir uns auf neue Armutsbilder einstellen. Die aktuelle Situation der Lockerungen, das Gefühl der Freiheit und der Sommer sind toll. Da verdrängen wir alle vielleicht auch, dass die Situation nach wie vor sehr ernst ist. Die Pandemie ist nicht überwunden.
Herr Bürgel, ich danke Ihnen für das Gespräch!
(Anmerkung: Das Interview wurde bereits im Juni aufgezeichnet. Neuere politische Ereignisse und aktuelle Fussballergebnisse bleiben daher unberücksichtigt.)